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  • Nietzsche in Nice and รˆze

    Nietzsche in Nice and รˆze โ€“ A Portrait

    When Friedrich Nietzsche traveled to Nice in the winter of 1883/84, he was not only seeking the mild climate of the Cรดte d’Azur. He was seeking relief for his pain-ridden body, the rhythm of the sea, the clarity of the sky. What opened up for him here was more than just a โ€œspa stayโ€: it was an aesthetic experience, a new topography of thought.

    In a letter to his sister Elisabeth, he wrote from Nice:
    “I have never seen such a sky, such brightness in the air, which lies like a light cloak over everything. Here one lives in a world of colors that gives birth not to intoxication but to clarity. Blue, the inexhaustible blue, permeates my entire thinking.”

    This view is significant: Nietzsche sees in the colors of Nice not a decorative idyll, but an existential reinforcement. Unlike in Turin or Genoa, where winter always brought him heaviness and illness, Nice opens up the possibility for him to experience the body not as an enemy, but as a resonance chamber of perception. Here he does not speak contemptuously of the body, but recognizes it as part of that โ€œgreat yesโ€ that his philosophy seeks.

    The road to รˆze โ€“ philosophy on the move

    From Nice, an old mule track leads along the coast up to รˆze, the eagle’s nest above the sea. Nietzsche often walked this path. The steep steps, the shimmer of light on the olive leaves, the play of shadows and rocks accompanied him like a silent choir.

    He notes:
    โ€œIt is as if with every step you enter another world of thoughts. The ascent is difficult, but it resembles what thinking itself demands: difficulty in order to reach the heights.โ€

    During these walks, the seed of that great unfinished work that would later become known as The Will to Power began to mature. Nietzsche’s notes from this period reveal a shift away from pure criticism of morality toward a philosophy of creation, of shaping, of โ€œaffirming life.โ€

    For Nietzsche, the will to power was not an abstract metaphor. He understood it as the dynamic energy that drives all living things, not only the spirit, but also nature, colors, the power of the sea, which he felt so directly in Nice. The body was no longer a burden to be overcome, but the place where this power manifests itself.

    Letters from a world of colors

    In another letter to his sister, he writes:
    โ€œHere in Nice, one learns how easy life can be when it speaks only through colors. Everything is bright, not in the way of dazzling snow, but like the most delicate music.โ€

    These words are not merely private enthusiasm. They mark a turning point: Nietzsche develops a way of thinking that affirms the richness of appearances, that does not despise the body but recognizes it as a mediator of experience. For him, the world of colors is not an illusion but an expression of a depth that constitutes life itself.

    Nice as a place of affirmation

    Thus, Nice becomes a symbolic place of affirmation for Nietzsche. The road to รˆze, the Mediterranean light, the bright facades of the old town, the vastness of the skyโ€”all this is not a backdrop, but an active part of his thinking. It shapes the tone that can later be described as the โ€œDionysianโ€ aspect of his late work: a way of thinking that is born not of contempt, but of affirmative power.

    The sea, the stones, the olive treesโ€”they appear in his philosophy not as romantic scenery, but as allies. The concept of the will to power is not abstract here, but concrete: the sea shows it in its waves, the body in pain, the colors in their brilliance.

    Conclusion

    Nietzsche’s Nice is not a place of escape, but a space for thought. By walking the Cรดte d’Azur, by talking about colors in his letters, by experiencing the body as a resonance of the world, he opens up a new possibility for philosophy: a philosophy without contempt for the body.

    On the path to รˆze, high above the sea, it seemed as if his thoughts were connected to the lightโ€”as if philosophy itself had become a walk, a path on which thought seeks altitude step by step.


    in german:

    Nietzsche in Nizza und รˆze โ€“ Ein Portrรคt

    Wenn Friedrich Nietzsche im Winter 1883/84 nach Nizza reist, sucht er nicht allein das milde Klima der Cรดte dโ€™Azur. Er sucht die Erleichterung fรผr seinen schmerzgeplagten Kรถrper, den Rhythmus des Meeres, die Klarheit des Himmels. Was sich hier fรผr ihn erรถffnet, ist mehr als ein bloรŸes โ€žKuraufenthaltโ€œ: es ist eine รคsthetische Erfahrung, eine neue Topographie des Denkens.

    In einem Brief an seine Schwester Elisabeth schreibt er aus Nizza:
    โ€žIch habe noch nie einen solchen Himmel gesehen, eine solche Helle der Luft, die sich wie ein lichter Mantel รผber alles legt. Man lebt hier in einer Welt der Farben, die nicht den Rausch, sondern die Klarheit gebiert. Blau, das unerschรถpfliche Blau, wie es mein ganzes Denken durchdringt.โ€œ

    Dieser Blick ist bezeichnend: Nietzsche sieht in den Farben Nizzas nicht die dekorative Idylle, sondern eine existentielle Verstรคrkung. Anders als in Turin oder Genua, wo der Winter fรผr ihn immer wieder Schwere und Krankheit brachte, รถffnet Nizza ihm die Mรถglichkeit, den Leib nicht als Feind, sondern als Resonanzraum der Wahrnehmung zu erfahren. Hier spricht er nicht verรคchtlich vom Kรถrper, sondern anerkennt ihn als Teil jenes โ€žgroรŸen Jaโ€œ, das seine Philosophie sucht.

    Der Weg nach รˆze โ€“ Philosophie im Gehen

    Von Nizza aus fรผhrt ein alter Saumpfad die Kรผste entlang hinauf nach รˆze, das Adlernest รผber dem Meer. Nietzsche ging diesen Weg hรคufig. Die steilen Stufen, das Flimmern des Lichts auf den Olivenblรคttern, das Spiel von Schatten und Felsen begleiteten ihn wie ein stiller Chor.

    Er notiert:
    โ€žEs ist, als ob man mit jedem Schritt in eine andere Welt von Gedanken trete. Der Aufstieg ist schwer, doch er gleicht dem, was das Denken selbst verlangt: Schwere, um zur Hรถhe zu gelangen.โ€œ

    In diesen Spaziergรคngen reifte der Keim zu jenem groรŸen unvollendeten Werk, das spรคter unter dem Titel Der Wille zur Macht bekannt werden sollte. Nietzsches Aufzeichnungen aus dieser Zeit zeigen eine Bewegung: weg von der reinen Kritik an der Moral hin zu einer Philosophie der Schรถpfung, des Gestaltens, der โ€žBejahung des Lebensโ€œ.

    Der Wille zur Macht war fรผr Nietzsche keine abstrakte Metapher. Er verstand ihn als jene dynamische Energie, die alles Lebendige antreibt, nicht nur den Geist, sondern auch die Natur, die Farben, die Kraft des Meeres, die er in Nizza so unmittelbar empfand. Der Leib war nicht mehr die Last, die man รผberwinden muss, sondern der Ort, an dem sich diese Macht zeigt.

    Briefe aus einer Welt der Farben

    In einem anderen Brief an seine Schwester findet sich der Satz:
    โ€žHier in Nizza lernt man, wie leicht das Leben sein kann, wenn es nur durch Farben spricht. Alles ist hell, nicht in der Weise des blendenden Schnees, sondern wie die zarteste Musik.โ€œ

    Diese Worte sind nicht bloรŸ private Schwรคrmerei. Sie markieren einen Wendepunkt: Nietzsche entwirft ein Denken, das den Reichtum der Erscheinungen bejaht, das den Kรถrper nicht verachtet, sondern ihn als Mittler der Erfahrung anerkennt. Die Welt der Farben ist ihm nicht Illusion, sondern Ausdruck einer Tiefe, die das Leben selbst ausmacht.

    Nizza als Ort der Affirmation

    So wird Nizza fรผr Nietzsche zum symbolischen Ort der Affirmation. Der Weg nach รˆze, das mediterrane Licht, die leuchtenden Fassaden der Altstadt, die Weite des Himmels โ€“ all dies ist kein Hintergrund, sondern aktiver Teil seines Denkens. Es prรคgt jenen Ton, den man spรคter als das โ€žDionysischeโ€œ seines Spรคtwerks beschreiben kann: ein Denken, das nicht aus der Verachtung, sondern aus der bejahenden Kraft geboren wird.

    Das Meer, die Steine, die Olivenbรคume โ€“ sie treten in seine Philosophie nicht als romantische Staffage, sondern als Verbรผndete. Das Konzept des Willens zur Macht ist hier nicht abstrakt, sondern konkret: das Meer zeigt es im Wogen, der Kรถrper im Schmerz, die Farben im Glanz.

    Schluss

    Nietzsches Nizza ist kein Fluchtort, sondern ein Denkraum. Indem er die Cรดte dโ€™Azur ergeht, indem er in Briefen von den Farben spricht, indem er den Kรถrper als Resonanz der Welt erfรคhrt, รถffnet er eine neue Mรถglichkeit der Philosophie: eine Philosophie ohne Verachtung des Leibes.

    Auf dem Pfad nach รˆze, hoch รผber dem Meer, schien es, als ob sich seine Gedanken mit dem Licht verbanden โ€“ als ob die Philosophie selbst zum Spaziergang geworden wรคre, ein Weg, auf dem das Denken Schritt fรผr Schritt die Hรถhe sucht.


    Einige Originalzitate und ihre Bedeutung

    1. Brief aus Genua, Ende November 1883 โ€ž[โ€ฆ] morgen geht es fort, meine Herzenslieben, ich will etwas Neues, nรคmlich Nizza, versuchen, denn Genua hat mir diesesmal nicht gutgetan. Auch war ich inzwischen hier zu bekannt geworden โ€“ ich konnte nicht mehr leben, wie ich wollte. Genua ist mir eine ausgezeichnete Schule harter, einfacher Lebensweise gewesen; ich weiรŸ jetzt, daรŸ ich wie ein Arbeiter und Mรถnch leben kann. [โ€ฆ] Sobald ich mich fest fรผr Nizza entschlossen habe, schreibe ich.โ€œ Projekt Gutenberg Hier zeigt sich deutlich sein Sehnen nach Nizza, nicht nur als Ort kรถrperlicher Erleichterung, sondern als Ort, an dem er โ€žleben, wie er wollteโ€œ kann โ€“ frei von dem Beklemmenden, das er in Genua empfand.
    2. Brief an Schwester aus Nizza, 26. Januar 1887 โ€žโ€ฆ bisher noch kein Stรคubchen Schnee; und wenn auch die ferneren Berge um Nizza herum sich weiรŸ gepudert haben, so mรถchte dies mehr unter die Toilettenkรผnste dieser sรผdlรคndischen Schรถnheit und Zauberin gehรถren als unter ihre Bรถsartigkeiten โ€ฆ Tatsรคchlich fehlt noch viel an der wirklichen Gesundheit; ich erinnere mich aber eines ganzen Nachmittags, wo ich mir gesund vorkam,โ€ฆโ€œ Projekt Gutenberg Dieses Zitat vermittelt, wie Nietzsche das milde Klima, das Licht und die Schรถnheit der Umgebung positiv erlebt โ€“ und wie diese Umgebung mit seiner Gesundheit, seiner Wahrnehmung und seinem Kรถrperempfinden verbunden ist. Man merkt: Der Kรถrper ist nicht Objekt der Verachtung, sondern Teil seiner Erfahrung.
    3. Brief an Schwester, Nizza, โ€žes wimmelt โ€ฆโ€œ (spรคter Winter) โ€žDie Tage kommen hier mit einer unverschรคmten Schรถnheit daher; es gab nie einen vollkommneren Winter. Und diese Farben Nizzas: ich mรถchte sie Dir schicken. Alle Farben mit einem leuchtenden Silbergrau durchgesiebt; geistige, geistreiche Farben; nicht ein Rest mehr von der Brutalitรคt der Grundtรถne. Der Vorzug dieses kleinen Stรผcks Kรผste zwischen Alassio und Nizza ist eine Erlaubnis zum Afrikanismus in Farbe, Pflanze und Lufttrockenheit: das kommt im รผbrigen Europa nicht vor.โ€œ Projekt Gutenberg Das ist wohl einer der besten Belege dafรผr, wie Nietzsche die Farben und das Licht empfindet, wie er Nizza selbst als fast einzigartigen Erfahrungsraum malt. โ€žNicht ein Rest mehr von der Brutalitรคt der Grundtรถneโ€œ โ€“ hier klingt durch, dass die Umgebung ihn sensibilisiert, lasst Kรถrper und Sinne in positiver Weise wirken.
    4. Brief vom 23. Mรคrz 1887 โ€žIch wรผnsche etwas mehr Geld zu haben, so daรŸ ich โ€ฆ eine eigene Kรผche haben kรถnnte. โ€ฆ Es ist auch eine Sache des Stolzes: ich mรถchte ein Leben fรผhren, das wirklich mir gemรครŸ ist und nicht derartig schablonenmรครŸig erscheint โ€ฆโ€œ Projekt Gutenberg In diesem Zitat kommt heraus: Nietzsche wรผnscht sich Bedingungen, unter denen Leben und Leib in einem Einklang stehen, ohne fremde Zwรคnge, mรถglichst im Einklang mit eigenem Wesen. Auch das spricht gegen Verachtung des Leibes und fรผr eine Philosophie, die Kรถrper, Sinne und รคuรŸere Umgebung ernst nimmt.

  • Renoir und Monet am Cap Martin

    Renoir und Monet am Cap Martin โ€“ Ein Disput in Farben

    Im Frรผhjahr 1884, als Auguste Renoir und Claude Monet gemeinsam auf eine Studienreise an die Cรดte dโ€™Azur aufbrachen, war die Riviera noch weit entfernt vom mondรคnen Glanz, den sie wenige Jahrzehnte spรคter ausstrahlen sollte. Zwischen Menton und Cap Martin herrschte eine eigentรผmliche Mischung aus Herbheit und Sanftheit: Olivenhaine, deren silbriges Laub im Wind zitterte, dunkelgrรผne Pinien, die dem gleiรŸenden Blau des Meeres scharf gegenรผberstanden. Fรผr beide Maler, die seit Jahren als fรผhrende Kรถpfe des Impressionismus galten, war es eine Landschaft, die das Licht selbst zum Gegenstand der Malerei erhob.

    Am Zollweg oberhalb von Cap Martin, von wo der Blick weit nach Osten รผber Menton hinaus bis an die ligurische Kรผste reichte, stellten sie ihre Staffeleien auf. Renoir hatte sich nach seiner Reise nach Italien verstรคrkt auf eine klassischere, fast an Ingres erinnernde Bildsprache zubewegt, doch in seinen Darstellungen der Riviera entfaltete er wieder jene vibrierende Sinnlichkeit, die ihn berรผhmt gemacht hatte. Sein Gemรคlde Vue de Menton (1884) zeigt das Stรคdtchen in einer Fรผlle warmer Farben, beinahe wie in einen Schleier mediterraner Glut getaucht.

    Monet hingegen blieb in seiner Serie von Ansichten des Cap Martin โ€“ heute verstreut in Museen und Privatsammlungen โ€“ seinem Prinzip treu, das wechselnde Licht in nuancierten Schattierungen zu bannen. Dort erscheint das Meer nicht als eine feste, einmalige Farbe, sondern als unendliches Spektrum von Blau, Violett und Grรผn, je nach Tageszeit und Wetter.

    Gerade diese Differenz fรผhrte zu einem leidenschaftlichen Disput. Renoir beharrte darauf, dass das Mittelmeer nicht in seiner Flรผchtigkeit, sondern in seiner sinnlichen Bestรคndigkeit eingefangen werden mรผsse. Fรผr ihn war das Blau keine analytische Kategorie, sondern eine Umarmung, eine kรถrperlich erfahrbare Wรคrme. Monet hingegen hielt entgegen, dass die Wahrheit in der unermรผdlichen Beobachtung liege: im Flirren der Reflexe, im Spiel der wechselnden Wolken, im Atem des Windes รผber den Wellen.

    So entstanden zwei Bilder vom gleichen Ort โ€“ beide zeigen den Zollweg mit Blick auf Menton, und doch kรถnnten sie unterschiedlicher kaum sein. Renoirs Leinwand leuchtet in satten, warmen Tรถnen, als wolle sie die Riviera zum Fest machen. Monets Bild dagegen trรคgt die Handschrift der Flรผchtigkeit: das Meer als lebendiger Organismus, der nie stillsteht.

    In dieser Gegenรผberstellung spiegelt sich nicht nur ein persรถnlicher Disput, sondern das ganze Spannungsfeld des Impressionismus. Wรคhrend Renoir zunehmend eine Synthese aus klassischer Form und impressionistischer Farbe suchte, blieb Monet dem radikalen Experiment verpflichtet, das Licht in seiner momentanen Erscheinung festzuhalten. Dass beide 1884 am Cap Martin nebeneinander arbeiteten, lรคsst sich in ihren Werken nachweisen: Renoirs Vue de Menton und Monets Serie der Kรผstenansichten bilden bis heute einen faszinierenden Dialog zweier Temperamente.

    So bleibt dieser Spaziergang am Cap Martin nicht bloรŸ eine Episode, sondern ein symbolisches Bild. Auf dem schmalen Weg oberhalb des Mittelmeers verdichtete sich der Gegensatz zweier kรผnstlerischer Haltungen zu einer produktiven Spannung. Die Cรดte dโ€™Azur schenkte beiden ihre Wahrheit โ€“ die eine glรผhend und kรถrperlich, die andere flรผchtig und atmend. Und in der Summe beider Bilder lebt bis heute der Zauber dieser Landschaft fort, als Echo eines Disputs, der das Wesen der impressionistischen Malerei berรผhrt.

    Kunsthistorische Quellen & Standorte

    1. Monet: Cap Martin, nahe Menton, 1884
      Dieses Gemรคlde befindet sich in der Sammlung des Museum of Fine Arts, Boston (USA). MFA Boston Custom Prints+1
      Dort ist es katalogisiert als โ€žCap Martin, near Menton, 1884โ€œ. MFA Boston Custom Prints
    2. Renoir: Landscape on the Coast, near Menton, 1883
      Dieses Bild โ€“ ein frรผher Blick auf die Kรผste bei Menton โ€“ gehรถrt ebenfalls zur Sammlung des Museum of Fine Arts, Boston. collections.mfa.org
      MaรŸe: ca. 65,7 ร— 81,3 cm. collections.mfa.org
    3. Renoir-Museum in Cagnes-sur-Mer
      Obwohl es eigentlich kein Standort fรผr die Cap-Martin-Arbeiten selbst ist (soweit dokumentiert), enthรคlt das Musรฉe Renoir in Cagnes-sur-Mer Originalgemรคlde, Skulpturen, und das Atelier Renoirs, und ist damit ein bedeutender Ort, um sich mit Renoirs Werk und seinen spรคten Lebensjahren auseinanderzusetzen. Cรดte dโ€™Azur Frankreich+1
  • Klaus Mann in exile in Sanary

    Cafรฉ de Lyon, Sanary-sur-Mer

    The afternoon sun cast a golden glow on the whitewashed walls of Sanary. The Cafรฉ de Lyon, a meeting place for exiles, vibrated with voices at a semi-loud intensity, like a stage where everyone was aware of their role. The waiter scurried between the tables, glasses clinked, and in the distance, the Mediterranean Sea roared.

    They sat gathered around a round marble table: Klaus Mann, slim, nervous, cigarette perpetually between his fingers; next to him, Eva Herrmann, the illustrator with the sharp gaze that captured faces like paper cutouts; her friend Sybille, who listened attentively; the eloquent Egon Erwin Kisch, the reporter who always seemed to bring a piece of the world with him; the couple Ludwig and Sascha Marcuse, the philosopher and his clever companion; and the Huxleys, Aldous with an ironic, almost absent smile, Maria at his side, who faced European dramas with quiet patience.

    Klaus leaned forward, his dark hair falling into his face.
    โ€œIt’s the pain of a summer,โ€ he said quietly, โ€œthat won’t go away. We are all uprooted, all homeless, and yet โ€“ we carry within us the longing for a lost youth. I tried to capture this sadness in literature. But perhaps it was too raw, too direct.โ€

    Eva Herrmann took a drag on her cigarette, letting the smoke rise in rings to the ceiling.
    โ€œToo direct? No, Klaus. Your pain was genuine. The only question is: is honesty enough when the world is on fire?โ€

    Kisch laughed throatily.
    โ€œOh, honesty is a luxury. What counts is attitude! You literati can lose yourselves in your painโ€”I bring the naked facts, the cries from the streets. Your Mephisto, Klaus, I see more attitude there: the masks of power, the corruption of the soul. That’s not just lamentation, that’s accusation.โ€

    Aldous Huxley tilted his head, his voice sober and cool as glass:
    “And yet the question remains: is Mephisto a warning โ€“ or a betrayal? You Germans write about the demons of your own stage, while the rest of Europe hesitates to name the impending catastrophe. The danger lies not only in the actor who sells himself, but in the audience that applauds.”

    Sybille turned to him.
    โ€œBut maybe that’s exactly it, Aldousโ€”the actor as a mirror. When you recognize Grรผndgens, you recognize an entire generation that is willing to make compromises with the devil.โ€

    Ludwig Marcuse, the philosopher, spoke deliberately, almost professorially:
    “The character in Mephisto is not just the actor. He is an allegory. Anyone who makes a career in the Reich always sells their morals as well. The question, Klaus, is: have you created an epicโ€”or a roman ร  clef? If it’s the latter, it will stick to the person. If it is the former, then it will outlive us.”

    Klaus pressed his lips together, then nodded.
    โ€œI want to be both. A witness to history and an accuser. Personal and universal. Maybe I won’t succeed, maybe I’ll fall between two stools. But I can’t remain silent.โ€

    Maria Huxley placed her hand lightly on Aldous’ arm, almost soothingly.
    โ€œSanary is full of voices, full of books. And yetโ€ฆ do they hear the world outside? Maybe it takes bothโ€”the reporter, the poet, the analyst, the allegory. Maybe each of you is a piece of a greater truth.โ€

    A gust of wind blew in from the harbor, rattling the awnings, bringing the smell of salt and seaweed. For a moment, they all fell silent, only the clinking of glasses and the distant laughter of other guests could be heard.

    Then Kisch raised his glass.
    โ€œTo pain, to the devil, to exile! And to the fact that at least here, in this little Cafรฉ de Lyon, we have a little bit of freedom.โ€

    Klaus looked around, and despite all the gloom, a smile flitted across his face.
    โ€œAnd to the hope that words are not entirely powerless.โ€

    The glasses clinked. Outside, the sea was roaring.


    in french:

    Cafรฉ de Lyon, Sanary-sur-Mer

    Le soleil de l’aprรจs-midi donnait un รฉclat dorรฉ aux murs blanchis ร  la chaux de Sanary. Le Cafรฉ de Lyon, lieu de rencontre des exilรฉs, vibrait d’une intensitรฉ ร  demi-voix, comme une scรจne oรน chacun รฉtait conscient de son rรดle. Le serveur se prรฉcipitait entre les tables, les verres tintaient et, au loin, la Mรฉditerranรฉe murmurait.

    Ils รฉtaient assis autour d’une table ronde en marbre : Klaus Mann, mince, nerveux, une cigarette constamment entre les doigts ; ร  cรดtรฉ de lui, Eva Herrmann, l’illustratrice au regard perรงant qui saisissait les visages comme des silhouettes dรฉcoupรฉes ; son amie Sybille, qui รฉcoutait attentivement ; Egon Erwin Kisch, le reporter รฉloquent, qui semblait toujours apporter avec lui un morceau du monde ; le couple Ludwig et Sascha Marcuse, le philosophe et sa compagne intelligente ; et les Huxley, Aldous avec un sourire ironique, presque absent, Maria ร  ses cรดtรฉs, qui affrontait les drames europรฉens avec une patience tranquille.

    Klaus se pencha en avant, ses cheveux noirs tombant sur son visage.
    ยซ C’est la douleur d’un รฉtรฉ ยป, dit-il doucement, ยซ qui ne passe pas. Nous sommes tous dรฉracinรฉs, tous sans patrie, et pourtant, nous portons en nous la nostalgie d’une jeunesse perdue. J’ai essayรฉ de capturer cette tristesse dans mes รฉcrits. Mais peut-รชtre รฉtait-ce trop cru, trop direct. ยป

    Eva Herrmann tira sur sa cigarette, laissant la fumรฉe s’รฉlever en volutes vers le plafond.
    ยซ Trop direct ? Non, Klaus. Ta douleur รฉtait sincรจre. La question est seulement de savoir si la sincรฉritรฉ suffit quand le monde est en flammes. ยป

    Kisch rit d’un rire guttural.
    ยซ Oh, l’honnรชtetรฉ est un luxe. Ce qui compte, c’est l’attitude ! Vous, les littรฉraires, vous pouvez vous perdre dans votre douleur โ€“ moi, j’apporte les faits bruts, les cris qui montent des rues. Ton Mรฉphisto, Klaus, j’y vois davantage une attitude : les masques du pouvoir, la corruption de l’รขme. Ce n’est pas seulement une plainte, c’est une accusation. ยป

    Aldous Huxley inclina la tรชte, la voix sobre et froide comme du verre :
    ยซ Et pourtant, la question demeure : Mรฉphisto est-il un avertissement ou une trahison ? Vous, les Allemands, vous รฉcrivez sur les dรฉmons de votre propre scรจne, tandis que le reste de l’Europe hรฉsite ร  nommer la catastrophe imminente. Le danger ne rรฉside pas seulement dans l’acteur qui se vend, mais aussi dans le public qui applaudit. ยป

    Sybille se tourna vers lui.
    ยซ Mais c’est peut-รชtre justement cela, Aldous : l’acteur comme miroir. Quand on reconnaรฎt Grรผndgens, on reconnaรฎt toute une gรฉnรฉration prรชte ร  faire des compromis avec le diable. ยป

    Ludwig Marcuse, le philosophe, s’exprima posรฉment, presque comme un professeur :
    ยซ Le personnage de Mรฉphisto n’est pas seulement l’acteur. C’est une allรฉgorie. Quiconque fait carriรจre dans le Reich vend toujours aussi sa morale. La question, Klaus, est la suivante : as-tu crรฉรฉ une รฉpopรฉe ou un roman ร  clรฉs ? Si c’est le cas, cela restera liรฉ ร  la personne. Si c’est le premier, alors elle nous survivra. ยป

    Klaus serra les lรจvres, puis acquiesรงa.
    ยซ Je veux รชtre les deux. Tรฉmoin de mon temps et accusateur. Personnel et universel. Peut-รชtre que je n’y parviendrai pas, peut-รชtre que je tomberai entre deux chaises. Mais je ne peux pas me taire. ยป

    Maria Huxley posa lรฉgรจrement la main sur le bras d’Aldous, presque pour l’apaiser.
    ยซ Sanary regorge de voix, de livres. Et pourtantโ€ฆ entendent-ils le monde extรฉrieur ? Peut-รชtre faut-il les deux : le reporter, le poรจte, l’analyste, l’allรฉgorie. Peut-รชtre que chacun d’entre vous est un morceau d’une vรฉritรฉ plus grande. ยป

    Une rafale de vent souffla depuis le port, secoua les auvents et apporta une odeur de sel et d’algues. Pendant un instant, ils restรจrent tous silencieux, seuls le tintement des verres et les rires lointains des autres clients se faisaient entendre.

    Puis Kisch leva son verre.
    ยซ ร€ la douleur, au diable, ร  l’exil ! Et au fait qu’au moins ici, dans ce petit Cafรฉ de Lyon, nous avons un peu de libertรฉ. ยป

    Klaus regarda autour de lui et, malgrรฉ toute sa mรฉlancolie, un sourire effleura son visage.
    ยซ Et ร  l’espoir que les mots ne sont pas tout ร  fait impuissants. ยป


    in german:

    Cafรฉ de Lyon, Sanary-sur-Mer

    Die Nachmittagssonne legte einen goldenen Schimmer auf die weiรŸ getรผnchten Mauern von Sanary. Das Cafรฉ de Lyon, Treffpunkt der Exilanten, vibrierte von Stimmen in halblauter Intensitรคt, wie eine Bรผhne, auf der jeder sich seiner Rolle bewusst war. Zwischen den Tischen huschte der Kellner, die Glรคser klirrten, und in der Ferne rauschte das Mittelmeer.

    An einem runden Marmortisch saรŸen sie versammelt: Klaus Mann, schlank, nervรถs, die Zigarette unentwegt zwischen den Fingern; neben ihm Eva Herrmann, die Illustratorin mit dem scharfen Blick, der die Gesichter wie Scherenschnitte erfasste; ihre Freundin Sybille, die aufmerksam lauschte; der wortgewaltige Egon Erwin Kisch, der Reporter, der immer ein Stรผck Welt mitzubringen schien; das Paar Ludwig und Sascha Marcuse, der Philosoph und seine kluge Gefรคhrtin; und die Huxleys, Aldous mit einem ironischen, fast abwesenden Lรคcheln, Maria an seiner Seite, die den europรคischen Dramen mit stiller Geduld entgegensah.

    Klaus lehnte sich vor, das dunkle Haar fiel ihm ins Gesicht.
    โ€žEs ist der Schmerz eines Sommers,โ€œ sagte er leise, โ€žder nicht vergeht. Wir sind alle entwurzelt, alle heimatlos, und doch โ€“ wir tragen die Sehnsucht nach einer verlorenen Jugend in uns. Ich habe versucht, diese Trauer literarisch einzufangen. Aber vielleicht war es zu nackt, zu direkt.โ€œ

    Eva Herrmann zog an ihrer Zigarette, lieรŸ den Rauch in Ringen zur Decke steigen.
    โ€žZu direkt? Nein, Klaus. Dein Schmerz war ehrlich. Die Frage ist nur: ob Ehrlichkeit ausreicht, wenn die Welt in Flammen steht.โ€œ

    Kisch lachte kehlig.
    โ€žAch, Ehrlichkeit ist ein Luxus. Was zรคhlt, ist Haltung! Ihr Literaten kรถnnt euch in eurem Schmerz verlieren โ€“ ich bringe die nackten Tatsachen, die Schreie aus den StraรŸen. Dein Mephisto, Klaus, da erkenne ich mehr Haltung: die Masken der Macht, die Korruption der Seele. Das ist nicht nur Klage, das ist Anklage.โ€œ

    Aldous Huxley neigte den Kopf, die Stimme nรผchtern und kรผhl wie Glas:
    โ€žUnd doch bleibt die Frage: ist Mephisto eine Warnung โ€“ oder ein Verrat? Ihr Deutschen schreibt รผber die Dรคmonen eurer eigenen Bรผhne, wรคhrend der Rest Europas zรถgert, die drohende Katastrophe zu benennen. Die Gefahr liegt nicht nur im Schauspieler, der sich verkauft, sondern im Publikum, das Beifall klatscht.โ€œ

    Sybille wandte sich zu ihm.
    โ€žVielleicht ist es aber gerade das, Aldous โ€“ der Schauspieler als Spiegel. Wenn man Grรผndgens erkennt, erkennt man eine ganze Generation, die bereit ist, Kompromisse mit dem Teufel einzugehen.โ€œ

    Ludwig Marcuse, der Philosoph, sprach bedรคchtig, fast professoral:
    โ€žDie Figur im Mephisto ist nicht nur der Schauspieler. Sie ist Allegorie. Wer im Reich Karriere macht, verkauft immer auch seine Moral. Die Frage, Klaus, ist: hast du ein Epos geschaffen โ€“ oder ein Schlรผsselroman? Wenn es Letzteres ist, bleibt es an der Person hรคngen. Wenn es Ersteres ist, dann wird es uns รผberdauern.โ€œ

    Klaus presste die Lippen zusammen, dann nickte er.
    โ€žIch will beides sein. Zeitzeuge und Anklรคger. Persรถnlich und universal. Vielleicht gelingt es nicht, vielleicht falle ich zwischen die Stรผhle. Aber ich kann nicht schweigen.โ€œ

    Maria Huxley legte die Hand leicht auf Aldousโ€™ Arm, fast beschwichtigend.
    โ€žSanary ist voller Stimmen, voller Bรผcher. Und dochโ€ฆ hรถren sie drauรŸen die Welt? Vielleicht braucht es beides โ€“ den Reporter, den Dichter, den Analytiker, die Allegorie. Vielleicht ist jeder von euch ein Stรผck einer grรถรŸeren Wahrheit.โ€œ

    Ein WindstoรŸ wehte vom Hafen herรผber, rรผttelte an den Markisen, brachte den Geruch von Salz und Tang. Fรผr einen Moment schwiegen sie alle, nur das Klirren der Glรคser und das ferne Lachen anderer Gรคste war zu hรถren.

    Dann hob Kisch sein Glas.
    โ€žAuf den Schmerz, auf den Teufel, auf das Exil! Und darauf, dass wir wenigstens hier, in diesem kleinen Cafรฉ de Lyon, ein Stรผck Freiheit haben.โ€œ

    Klaus sah in die Runde, und trotz aller Schwermut huschte ein Lรคcheln รผber sein Gesicht.
    โ€žUnd auf die Hoffnung, dass Worte nicht ganz machtlos sind.โ€œ

    Die Glรคser stieรŸen an. DrauรŸen brandete das Meer.

  • Walter Bondy โ€“ Fotograf des Exils

    Walter Bondy โ€“ Fotograf des Exils und Chronist von Sanary

    Wenn man an die Exilorte der europรคischen Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit denkt, erscheint Sanary-sur-Mer wie ein leuchtender Punkt an der sรผdfranzรถsischen Kรผste: ein Hafenstรคdtchen, das sich unversehens in eine provisorische Hauptstadt der deutschsprachigen Kultur verwandelte. Unter den Schriftstellern, Musikern und Kรผnstlern, die hier Zuflucht suchten, befand sich auch Walter Bondy, ein Mann, der die Krise seiner Epoche nicht nur durchlebte, sondern sie mit der Kamera dokumentierte.

    Bondy, 1880 in Prag geboren, entstammte einer assimilierten jรผdischen Familie. Schon frรผh stand er im Bann der Kunst: zunรคchst als Maler, spรคter als Kunstkritiker, Sammler und Hรคndler. In Wien und Berlin zรคhlte er zu jenen Figuren, die die Moderne befeuerten, ohne sich selbst ganz ins Rampenlicht zu stellen. Sein Werk oszillierte stets zwischen eigenem kรผnstlerischem Ausdruck und der Vermittlung anderer โ€“ ein Dasein als Mittler, Beobachter, Chronist.

    Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten musste Bondy Deutschland verlassen. Seine Flucht fรผhrte ihn nach Frankreich, wo er sich in Sanary-sur-Mer niederlieรŸ โ€“ jenem Ort, den Lion Feuchtwanger das โ€žHauptquartier der deutschen Literaturโ€œ nannte. Hier lebten und arbeiteten Thomas Mann, Arnold Zweig, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, die Feuchtwangers, die Kracauers und viele andere. Bondy aber nahm eine Sonderrolle ein: nicht als gefeierter Schriftsteller, sondern als Fotograf, der das Leben der Exilanten mit stillem, zugleich unbestechlichem Blick festhielt.

    Die Fotografie wurde fรผr Bondy im Exil zum eigentlichen Medium der Existenz. In einer Welt, in der Sprache, Publikationsmรถglichkeiten und Mรคrkte von der Diktatur abgeschnitten waren, konnte die Kamera Brรผcken schlagen. Seine Portrรคts zeigen nicht nur Gesichter, sie spiegeln auch die Fragilitรคt einer ganzen Generation, die auf gepackten Koffern lebte, heimatlos zwischen den Fronten einer sich verdรผsternden Weltgeschichte.

    Bondys Atelier in Sanary war kein glamourรถses Studio, sondern eher eine improvisierte Werkstatt. Doch dort gingen viele der groรŸen Namen des Exils ein und aus. Seine Aufnahmen wirken unprรคtentiรถs: Sie verzichten auf Inszenierung und suchen die Nรคhe zur Person. In den Gesichtern von Schriftstellern und Kรผnstlern, die alles verloren hatten auรŸer ihrer geistigen Stimme, wird die Spannung zwischen innerer Wรผrde und รคuรŸerer Unsicherheit greifbar.

    Dabei war Bondy selbst keineswegs nur der dokumentierende AuรŸenstehende. Auch er lebte im Modus des Provisoriums, im รถkonomischen Mangel, im stรคndigen Bewusstsein der Unsicherheit. Sein fotografisches Werk ist deshalb nicht nur Abbild einer Exilgemeinschaft, sondern auch Ausdruck einer eigenen existentiellen Lage. Der Fotograf des Exils war zugleich ein Exilant, dessen Kamera sein รœberlebensinstrument wurde.

    In Sanary, diesem paradoxen Paradies, das Sonne und Weinreben bot, wรคhrend in Deutschland Bรผcher verbrannt wurden, entstand so ein Bildarchiv, das heute zu den kostbaren Zeugnissen jener Epoche zรคhlt. Bondys Portrรคts sind nicht nur รคsthetisch รผberzeugend; sie sind auch historische Dokumente, Spiegel einer verlorenen Welt.

    Tragisch bleibt, dass Bondy wie viele andere nie wirklich FuรŸ fassen konnte. Nach 1940 verschรคrfte sich die Lage der Emigranten auch in Frankreich, Internierungslager und Flucht wurden zur bitteren Realitรคt. Bondy selbst starb 1940 in Toulon, geschwรคcht und entwurzelt, kaum beachtet von einer Welt, die bereits im Krieg versank.

    Doch sein Vermรคchtnis ist unรผbersehbar: Walter Bondy hat die Gesichter des Exils bewahrt. In seiner Arbeit verschrรคnken sich Kunst und Dokumentation, persรถnliches Schicksal und kollektives Gedรคchtnis. Wer heute seine Aufnahmen betrachtet, sieht nicht nur Schriftsteller, Musiker oder Kรผnstler โ€“ man sieht den Abdruck einer ganzen Kultur, die im Sรผden Frankreichs noch einmal aufblรผhte, bevor sie von Verfolgung und Vernichtung รผberschattet wurde.

    Die Portrรคts โ€“ Gesichter einer verlorenen Welt

    Bondys Fotografien aus Sanary sind heute unschรคtzbare Dokumente. Sie zeigen die Exilanten nicht als Denkmalfiguren, sondern als Menschen in einer fragilen Gegenwart:

    • Lion Feuchtwanger portrรคtierte Bondy mit einem wachen, beinahe skeptischen Blick โ€“ der Schriftsteller, der in Frankreich zwar noch eine Stimme hatte, aber schon ahnte, dass er erneut fliehen musste.
    • Alma Mahler-Werfel erscheint in seinen Bildern nicht als glamourรถse Muse, sondern ernst, fast streng โ€“ eine Frau, die in ihrer Biografie mehr Brรผche vereinte als viele andere.
    • Franz Werfel zeigt er mit mรผden Augen, in einem Moment der Stille zwischen schรถpferischem Furor und innerer Erschรถpfung.
    • Auch Arnold Zweig und Ernst Toller hat Bondy festgehalten: Mรคnner, die ihre literarische Autoritรคt bewahren wollten, wรคhrend ihr Alltag von Unsicherheit, รถkonomischer Not und der Angst vor Internierung bestimmt war.

    Diese Aufnahmen verzichten auf spektakulรคre Inszenierung. Bondy suchte nicht die Pose, sondern das Gesicht selbst, die kleine Regung, den Ausdruck zwischen Hoffnung und Sorge. Seine Bilder sind keine bloรŸen Kรผnstlerportrรคts, sondern Zeugnisse einer Gemeinschaft im รœbergang, die im Sรผden Frankreichs fรผr einen kurzen Moment Atem schรถpfte.

    Sanary, Nizza, Marseille, Los Angeles โ€“ Orte des Exils im Vergleich

    Um Bondys Bedeutung zu verstehen, lohnt der Blick auf die Geografie des Exils:

    • Sanary-sur-Mer war ein Ort der Nรคhe: klein, รผberschaubar, fast dรถrflich. Hier kannten sich die Exilanten, sie begegneten sich tรคglich am Hafen, beim Einkauf, in den Cafรฉs. Bondys Fotografien leben von dieser Intimitรคt.
    • Nizza und die Cรดte dโ€™Azur boten hingegen mondรคnere Rรผckzugsrรคume. Hier versammelte sich eine kosmopolitische Gesellschaft aus Kรผnstlern, Politikern, Diplomaten. Die Distanz zwischen den Exilanten war grรถรŸer, ihre Sichtbarkeit hรถher.
    • Marseille wurde ab 1940 zum Transitort, chaotisch, gefรคhrlich, geprรคgt von Flucht und Rettungsversuchen. Hier dominierten Pรคsse, Visa, Schiffstickets, nicht die Kontemplation.
    • Los Angeles schlieรŸlich, oft โ€žWeimar am Pazifikโ€œ genannt, wurde fรผr viele zum dauerhaften Exil: Dort entstand eine deutschsprachige Parallelkultur, in der Schriftsteller, Musiker und Intellektuelle eine zweite Heimat fanden.

    Bondy aber blieb in Sanary. Und gerade das macht seine Bilder einzigartig: Sie zeigen den kurzen Moment, in dem die Exilanten noch nicht zerstreut waren, sondern eine Gemeinschaft bildeten. Ein Vorspiel zur Flucht, eingefroren im Licht Sรผdfrankreichs.

    Vermรคchtnis

    Heute gelten Walter Bondys Fotografien als unschรคtzbare Zeugnisse des Exils. Sie erinnern daran, dass Kulturgeschichte nicht nur in Bรผchern geschrieben wird, sondern auch in Gesichtern. Bondy hat jene festgehalten, die die deutsche Kultur ins Exil trugen, bevor sie sich รผber Kontinente verstreute.

    Er selbst blieb eine Randfigur, starb vergessen โ€“ und doch verdankt ihm die Nachwelt ein visuelles Gedรคchtnis dieser Epoche. In seinen Bildern verbinden sich die persรถnliche Erfahrung des Flรผchtlings mit dem Blick des Kรผnstlers. Sanary lebt in ihnen fort: als Ort der Verlorenen, der Schaffenden, der Wartenden.

    Walter Bondy โ€“ Fotograf des Exils: ein Mann, der mit der Kamera die Wรผrde jener bewahrte, die fast alles verloren hatten.

  • The Salon of Economics

    The Salon of Economics

    A play in five scenes

    Characters

    David Ricardo โ€“ sober theorist, speaks concisely, emphatically, almost like a maths teacher

    • Karl Marx โ€“ passionate, boisterous, with powerful gestures
    • Thomas Robert Malthus โ€“ sombre, solemn, with the tone of a preacher
    • John Stuart Mill โ€“ calm, conciliatory, clear and moral
    • Alfred Marshall โ€“ analytical, level-headed, with an instructive tone
    • John Maynard Keynes โ€“ elegant, ironic, moves casually, almost dance-like
    • Schumpeter, Hayek, Sismondi โ€“ hecklers, designed as a chorus

    Stage design

    A Victorian salon: dark wood panelling, heavy curtains, a log fire, globe, leather armchairs. Manuscripts, quills and glasses of wine lie on the tables. The light is warm, dominated by candles and the fireplace.

    Scene I โ€“ The cloth and the wine

    Stage direction: Ricardo stands by the globe, cane in hand. He speaks without making eye contact, staring at the map as if it were an equation. Marx sits restlessly, drumming his fingers, ready to explode.

    Ricardo (dryly, with clear emphasis, pointing with his cane):
    England โ€“ cloth. Portugal โ€“ wine. Exchange. Advantage for both. It’s that simple.

    Marx (jumps up, voice loud, gestures widely):
    That simple? You forget the worker! He spins the cloth, he presses the wine โ€“ and starves. Your mathematics is a veil over blood and sweat.

    Malthus (rises slowly, speaks solemnly, both hands raised like a preacher):
    You argue about bread and wine, but hunger remains. The population is growing faster than food supplies. Misery is no accident, it is a law of nature.

    Stage direction: Silence. Only the crackling of the fireplace. The characters look down at the floor, shocked.

    Scene II โ€“ Hope and Illusion

    Mill (steps forward, calm, palms open to the audience):
    Mr Malthus, you paint too bleak a picture. Progress is possible. Education, institutions, democracy โ€“ they can alleviate poverty.

    Marx (cutting, pointing his finger at Mill):
    Alleviate, yes โ€“ but never cure. You polish chains, Mr Mill. But chains remain chains.

    Marshall (stands up slowly, speaks like a lecturer, hands clasped behind his back):
    The market is not a machine. It thrives on habits, trust, human psychology. We economists must understand people โ€“ not just numbers.

    Stage direction: Mill nods thoughtfully, Marx snorts contemptuously, Malthus turns away as if he does not want to hear the conversation.

    Scene III โ€“ The gentleman with the sherry

    Stage direction: Suddenly, a door opens. A beam of light falls on Keynes, who casually enters with a glass of sherry. He walks slowly to the fireplace as if he were in his own home.

    Keynes (ironically, voice slightly playful):
    Oh, the voices of the 19th century! I come from the 20th โ€“ wars, stock market crashes, armies of unemployed. Believe me: markets do not heal. Without the state: ruin.

    Ricardo (stamps his cane on the floor, indignant):
    And you believe civil servants can calculate better than markets?

    Keynes (takes a sip, leans back relaxed against the fireplace):
    Not better at calculating โ€“ but at acting when inaction kills. During the Depression, waiting didn’t help, only intervention did. The state โ€“ the doctor of capitalism.

    Marx (laughs bitterly, raises both arms):
    A doctor who nurses the disease! Mr Keynes, you are not the healer โ€“ you are the personal physician of dying capital.

    Stage direction: Keynes smiles charmingly, as if he has heard the accusation a thousand times before.

    Scene IV โ€“ The hecklers

    Stage direction: Light on the second row, where three figures are sitting. They speak alternately, sometimes all at once.

    Schumpeter (almost ecstatic, arms spread wide):
    You talk of balance! But capitalism is destruction โ€“ creative destruction! The entrepreneur tears down the old and creates the new.

    Hayek (cutting, with raised index finger):
    And woe betide the state that believes it can control this chaos. Planning is presumption. Freedom is order โ€“ even if it looks like chaos.

    Sismondi (quietly, pleadingly, stepping forward):
    But who protects the people who are drowning in chaos? Without morality, your market will become a slaughterhouse.

    Scene V โ€“ The Echo

    Stage direction: Everyone steps forward into a semicircle. Each calls out their line into the darkness of the auditorium, first individually, then overlapping, until a chorus emerges. The light flickers, the fireplace goes out.

    Ricardo (loud, authoritative): Trade is reason!
    Marx (thundering): Capital is domination!
    Malthus (gloomy, solemn): Nature is limitation!
    Mill (clear, moral): Reform is duty!
    Marshall (calm, analytical): Markets are organisms!
    Keynes (ironic, almost dance-like): The state is doctor!
    Schumpeter (enthusiastic): Destruction is creation!
    Hayek (sharp): Freedom is chaos!
    Sismondi (pleading): Morality is necessity!

    Stage direction: The voices overlap, become louder, chaotic, then abruptly silent. Only a faint echo remains. The lights go out.

    Curtain.

    KK

  • Neutralitรคtsstudien – Neutrality Studies

    Ein Beitrag von Nel Bonilla.

    wenn Sie รผber mein kรผrzlich gefรผhrtes Interview mit Pascal Lottaz zum Thema Neutralitรคtsstudien hierher gelangt sind, danke ich Ihnen. Ich bin Ihnen sehr dankbar fรผr Ihr Interesse an diesen Themen, die leider von Tag zu Tag dringlicher werden.

    Ein paar Worte zu meiner Person und was Sie von Worldlines erwarten kรถnnen:

    Meine Ausbildung in Humangeographie, Migrationsstudien und Soziologie flieรŸt in meine Analyse der Art und Weise ein, wie Systeme โ€“ und nicht nur Individuen (obwohl Individuen auch dazu gehรถren, aber meist als Teil grรถรŸerer Gruppen) โ€“ globale Machtkonstellationen formen. Ich untersuche Elitenetzwerke, strukturelle und organisierte Gewalt und die verborgene Maschinerie der Geopolitik, manchmal mit dem Schwerpunkt, wie Institutionen Loyalitรคt und Konflikte erzeugen.

    Bei Worldlines untersuche ich die weitgehend unsichtbare Architektur der zeitgenรถssischen Geopolitik, die ihr zugrunde liegenden Schaltkreise, zum Beispiel durch:

    ๐Ÿ”น Elite Strategy: Die Institutionen, Stiftungen und Drehtรผrkarrieren, die privates Kapital in รถffentliche Politik umwandeln.

    ๐Ÿ”น Wie Konflikte gestaltet werden: Warum Begriffe wie โ€žstrategische Mehrdeutigkeitโ€œ und โ€žMultidomรคnen-Kriegsfรผhrungโ€œ Blaupausen fรผr endlose Eskalation sind und keineswegs der Lรถsung von Konflikten dienen.

    ๐Ÿ”น Strukturelle Kontinuitรคten: Die anhaltende hegemoniale Logik, die die Eindรคmmung des Kalten Krieges mit dem heutigen โ€žGroรŸmacht-Wettbewerbโ€œ mit all seinen menschlichen und politischen Folgen verbindet.

    Mein Ziel ist es nicht, Schlagzeilen zu verfolgen, sondern die langfristigen Prozesse zu verstehen, die sie antreiben. Gelegentlich reagiere ich auf bestimmte Nachrichtenereignisse, aber immer mit einem strukturellen Blickwinkel.

    Vorgeschlagene Einstiegspunkte
    Je nach Interesse kรถnnen Sie hier mit einigen Beitrรคgen beginnen:

    ๐Ÿ”นElite Capture & European Self-Destruction
    Warum transatlantische Netzwerke die EU-Politik gegen ihre eigenen Interessen vorantreiben. Und insbesondere, warum Deutschlands Energiearmut und Aufrรผstungspolitik fast schon konstruierte Ergebnisse sind.
    ๐Ÿ”นDer Mythos der transatlantischen Spaltung
    Die โ€žAutonomieโ€œ-Debatten der EU, erklรคrt: Warum die โ€žGrรคbenโ€œ zwischen den USA und Europa meist nur Theater sind.
    ๐Ÿ”นDer Plan fรผr US-Drohnenangriffe in Mexiko
    Ein Blick darauf, wie nominell neutrale Lรคnder in der unipolaren-multipolaren Konfrontation ins Visier genommen werden.
    ๐Ÿ”นZรถlle als Belagerungsmaschinen
    Was der Zollkrieg gegen China รผber die langfristige Strategie der USA verrรคt.

    ๐Ÿ”นTransatlantische Konvergenz: Frieden oder schlummernde NATO?
    Wie Europa im Rahmen einer neuen Einsatzdoktrin fรผr den Krieg umgerรผstet wird.

    ๐Ÿ”นDas geopolitische Theater: Trump, die NATO und der Weg ins Jahr 2028
    Anzeichen dafรผr, dass die Eskalation kein Zufall ist, sondern Teil eines bewussten und inszenierten Kontinuums.

    ๐Ÿ”นWarum unterstรผtzen die regierenden Eliten schรคdliche Politiken?
    Eine Untersuchung des systemischen, ideologischen und institutionellen Drucks auf die Entscheidungsfindung der Eliten.


    Demnรคchst,
    Ich entwickle derzeit ein neues langes Stรผck mit dem Arbeitstitel:
    โ€žWeaponizing Time & Uncertaintyโ€œ. Darin wird untersucht, wie strategische Mehrdeutigkeit eingesetzt wird, um die Instabilitรคt zu verlรคngern, was darauf hindeutet, dass globale permanente Spannungen das beabsichtigte Ergebnis sind. Natรผrlich wird dies noch viel ausfรผhrlicher erklรคrt und dargelegt werden.


    Ein Hinweis zu Rhythmus und Zeitplan
    Ich befinde mich in der Endphase meiner Doktorarbeit, daher erscheinen die wichtigsten Beitrรคge vorerst etwa alle drei Wochen. Sobald die Dissertation eingereicht ist, werde ich hรคufiger verรถffentlichen und auch Fragen und Antworten, Forschungstipps und Beitrรคge hinter den Kulissen verรถffentlichen. Dies sind historische Zeiten, und ich glaube, sie rechtfertigen eine sorgfรคltige und kritische Aufzeichnung.

    In jedem Fall bin ich besonders gespannt darauf, von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zu erfahren, wie sich diese Analyse auf Ihren Kontext auswirkt (wo immer Sie sich in der Welt befinden). Teilen Sie Ihre Gedanken in den Kommentaren mit.

    https://substack.com/home/post/p-168426706

    Was ist die Die Bourdieu-Falle?

    Der Ausdruck โ€žBourdieu-Falleโ€œ ist kein feststehender Begriff aus Pierre Bourdieus eigenem Werk, sondern eher eine kritische Zuschreibung oder eine Debattenformel, die in verschiedenen Kontexten auftaucht. Gemeint ist damit meistens ein problematischer Nebeneffekt der Anwendung von Bourdieus Theorie.

    Es lassen sich grob drei Bedeutungen unterscheiden, je nachdem, wer ihn verwendet:

    1. Determinismus-Falle
      • Bourdieus Konzepte wie Habitus, Feld und Kapital erklรคren sehr prรคzise, wie soziale Herkunft und Strukturen das Denken, Handeln und die Chancen von Menschen prรคgen.
      • Kritiker sprechen von einer โ€žFalleโ€œ, wenn man diese Erklรคrung so stark betont, dass Individuen fast nur noch als Produkte der Strukturen erscheinen โ€“ ohne Handlungsspielraum.
      • Gefahr: Man unterschรคtzt Kreativitรคt, Widerstand oder Brรผche mit dem Habitus.
    2. Reproduktions-Falle
      • Bourdieus Analysen (z. B. Die feinen Unterschiede) zeigen, wie Bildungs- und Klassensysteme soziale Ungleichheiten immer wieder neu erzeugen.
      • Als โ€žFalleโ€œ wird hier verstanden, dass man dazu neigt, Ungleichheit als fast zwangslรคufige Reproduktion zu sehen.
      • Gefahr: Pessimismus und politische Lรคhmung (โ€žman kann ja doch nichts รคndernโ€œ).
    3. Theorie-Falle
      • Manche Soziologen werfen Bourdieu vor, sein Theoriegebรคude sei so umfassend und selbstreferenziell, dass man fast alles darin erklรคren kรถnne.
      • โ€žFalleโ€œ heiรŸt hier: Man kann sich zu sehr in Bourdieus Kategorien (Kapitalarten, Felder, Habitus) einsperren und รผbersieht alternative Ansรคtze.

    ๐Ÿ‘‰ Kurz gesagt: Die โ€žBourdieu-Falleโ€œ meint die Gefahr, Bourdieus Einsichten so zu verwenden, dass man Menschen auf ihre soziale Herkunft reduziert und Verรคnderung, Handlungsmacht oder theoretische Vielfalt aus dem Blick verliert.